Wenn ein Strafsenat des BGH ohne Not die Verfassung falsch auslegt
Der Artikel von Kathrin Groh diskutiert eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 16. Januar 2025, die besagt, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung gemäß Art. 4 Abs. 3 GG im Kriegsfall ausgesetzt werden kann, und zwar nach Ansicht des BGH bereits durch einfaches Gesetz und nicht erst durch eine Verfassungsänderung. Dies würde bedeuten, dass wehrpflichtige deutsche Männer im Verteidigungsfall uneingeschränkt zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden könnten, selbst wenn ihr Gewissen dies verbietet.
Link zum Artikel: https://verfassungsblog.de/kriegsdienstverweigerung-kriegsfall-bundesgerichtshof
Im Podcast diskutieren unsere Moderatoren Tina und Matthias* den Artikel und beleuchten das Thema:
FAQ zum Artikel
Was besagt die aktuelle Entscheidung des BGH zur Kriegsdienstverweigerung im Kriegsfall?
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Beschluss vom 16. Januar 2025 (4 ARs 11/24) die Auffassung vertreten, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes im Kriegsfall ausgesetzt werden könne. Laut BGH sei hierfür keine Verfassungsänderung notwendig, sondern eine solche Aussetzung sei bereits durch ein einfaches Gesetz möglich. Begründet wird dies damit, dass Verkürzungen des Grundrechts für den Verteidigungsfall bereits im Grundgesetz selbst angelegt seien. Dies würde bedeuten, dass wehrpflichtige Männer im Kriegsfall uneingeschränkt zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden könnten, selbst wenn ihr Gewissen dies verbietet, sobald der Verteidigungsfall festgestellt wurde.
Warum wird die Entscheidung des BGH kritisiert?
Die Entscheidung des BGH wird scharf kritisiert, da sie nach Ansicht von Rechtsexperten, wie Kathrin Groh, die Verfassung falsch auslegt. Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Artikel 4 Absatz 3 GG sei gerade für den Kriegsfall konzipiert und sein unantastbarer Kernbereich verlange gerade in diesem Fall uneingeschränkte Geltung. Dieser Kernbereich sei abwägungsfest und dürfe nicht gegen die Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr aufgerechnet werden. Das vorbehaltlos gewährte Recht auf Kriegsdienstverweigerung räume dem Schutz des Einzelgewissens Vorrang selbst gegenüber der Pflicht zur Beteiligung an der bewaffneten Landesverteidigung ein.
In welchem Zusammenhang traf der BGH diese Entscheidung?
Der BGH traf diese Entscheidung im Rahmen der Prüfung der Auslieferung eines ukrainischen Staatsbürgers aus Deutschland in die Ukraine. Dieser hatte in Deutschland den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert und gehofft, dies schütze ihn vor Auslieferung, da die Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Krieg ausgesetzt hat. Der BGH erlaubte die Auslieferung von Kriegsdienstverweigerern grundsätzlich, beschränkte sie aber auf den Fall, dass ein ersuchender Staat mit völkerrechtswidriger Waffengewalt angegriffen wurde, wie im Fall der Ukraine.
Welche Bedeutung hat das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung im deutschen Recht?
In Deutschland ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausdrücklich in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes verankert, im Gegensatz zu den meisten anderen demokratischen Staaten, in denen es lediglich einfach gesetzlich geregelt ist. Dieses Grundrecht wurde 1949, nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege, in das Grundgesetz aufgenommen, insbesondere als Reaktion auf die Verfolgung und Hinrichtung von Kriegsdienstverweigerern im Nationalsozialismus. Es soll jede Gewissensentscheidung schützen, aus der sich für den Einzelnen ein Tötungsverbot im Krieg ergibt, gegen das er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln kann.
Wie unterscheidet das Grundgesetz zwischen bewaffnetem und waffenlosem Dienst im Kriegsfall?
Das Grundgesetz unterscheidet zwischen dem Kriegsdienst mit der Waffe, der verweigert werden darf (Art. 4 Abs. 3 GG), und dem Kriegsdienst ohne Waffe, der als Ersatzdienst in Artikel 12a Absatz 2 und 3 GG geregelt ist. Eine Totalverweigerung sowohl des Kriegs- als auch des Ersatzdienstes ist ausgeschlossen. Das Konzept der Gesamtverteidigung in Artikel 12a GG sieht vor, dass militärische und zivile Verteidigung ineinandergreifen und der Staat die Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger braucht. Der waffenlose Ersatzdienst kann auch zum Dienst in den Streitkräften oder in der Bundeswehrverwaltung verpflichten, allerdings nur zu Tätigkeiten, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zum Einsatz von Kriegswaffen stehen.
Darf der einfache Gesetzgeber das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung einschränken?
Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers in Artikel 4 Absatz 3 Satz 2 GG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kein klassischer Gesetzes- oder Ausgestaltungsvorbehalt, sondern ein Verfahrensvorbehalt. Das bedeutet, der Gesetzgeber darf lediglich Regeln für das Verfahren der behördlichen Gewissensprüfung und die Wirkungen des Antrags auf Verweigerung erlassen. Die einzige Stellschraube, an der Einschränkungen des Grundrechts ansetzen dürfen, ist der Strengegrad der Gewissenserforschung.
Welche Rolle spielt die Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG) im Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung?
Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Artikel 4 Absatz 3 GG wird als ein spezieller Ausfluss der Gewissensfreiheit in Artikel 4 Absatz 1 GG betrachtet. Da die Gewissensfreiheit im Gedanken der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG) wurzelt, steht das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nach der Rechtsprechung des BVerfG in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie. Alle Grundrechte nehmen an der Unabänderlichkeit des Artikel 1 Absatz 1 GG teil, allerdings nur insoweit, als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Grundgesetz entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind. Der genaue Umfang dieser Unverzichtbarkeit für Artikel 4 Absatz 3 GG ist nicht abschließend geklärt.
Wäre eine Verfassungsänderung nötig, um das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung im Kriegsfall auszusetzen?
Nach Ansicht der Kritiker der BGH-Entscheidung wäre eine Verfassungsänderung nötig, um das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung für den Kriegsfall auszusetzen. Dies liegt daran, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung im Kriegsfall seinen Kernbereich entfaltet und laut BVerfG stärker ist als die Verfassungsgüter der wirksamen Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. Um eine solche Verfassungsänderung zu rechtfertigen, müsste argumentativ der enge Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufgelöst werden. Die Annahme ungeschriebener „überragender Treuepflichten“ der Bürger gegenüber dem Staat im Kriegsfall, wie vom BGH angedeutet, wird als nicht mehr haltbar betrachtet, da Grundpflichten der Bürger gegenüber dem Staat nur durch das Grundgesetz selbst auferlegt werden können.
* Tina und Matthias, ihre Podcast-Zusammenfassung und die FAQ wurden mit KI erstellt.