Ein Urteil des OLG Celle vom 09.04.2024 (Az. 2 ORs 29/24) sorgt bis heute für einige Aufregung.
Diese Aufregung ist für die große Mehrheit der Nutzer von Masern-Impfblocker nicht gerechtfertigt. Das OLG Celle hatte sich an einem Detail „aufgehängt“ und darüber eine Strafbarkeit konstruiert. Dieses Detail ist in den Internet-Attesten seit Mitte März 2023 nicht mehr enthalten, um hier keine unnötige strafrechtliche Angriffsfläche zu bieten.
Aber auch Nutzer, die ein älteres Attest verwendet haben, sollten sich bewusst sein: Das OLG Celle musste gleich mehrere „Klimmzüge“ vornehmen, um irgendwie die Möglichkeit einer Strafbarkeit begründen zu können. Das letzte Wort ist in diesem Verfahren noch nicht gesprochen. Das OLG höchstselbst regte im Verhandlungstermin bei der Staatsanwaltschaft an, ob das Verfahren nicht besser eingestellt werden sollte. In der Praxis handelt es sich dann auch um einen Ausreißer-Fall. Fast alle anderen Gerichte gehen nicht von einer Strafbarkeit aus.
Das ist auch logisch. Denn oftmals wird bei Eltern, die ein Impfblocker-Attest vorgelegt haben, versucht, ein Bußgeld wegen Nichtvorlage eines Gesundheitszeugnisses zu verhängen. Begründung: Es handelt sich bei dem Impfblocker-Attest NICHT um ein Gesundheitszeugnis.
Der Strafrechtstatbestand § 279 StGB – Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse – setzt allerdings objektiv voraus, dass es sich um ein Gesundheitszeugnis handelt (!). Genau das verneinen die Behörde in zahlreichen Schreiben selbst!
Wie kam das OLG Celle dennoch zu seinem Ergebnis?
1. Atteste, die ohne vorherige Untersuchung ausgestellt worden sind, können unrichtig sein. Ausnahme: Im Attest wurde explizit angegeben, dass keine Untersuchung stattgefunden hat. So war es auch im Fall des OLG Celle – jedoch mit der Einschränkung – dass es dort heißt „ohne erneute (körperliche) Untersuchung“. Der Aussteller des Attests behauptet also, unmittelbar vor der Ausstellung keine körperliche Untersuchung vorgenommen zu haben. Damit fällt der Vorwurf der Unrichtigkeit wegen einer nicht durchgeführten Untersuchung in sich zusammen. Für heutige Nutzer von Masern-Impfblocker: In allen Masern-Internet-Attesten ist die ggf. missverständliche Formulierung „erneute“ mittlerweile gestrichen und es wird angegeben, dass das Gutachten OHNE vorherige ärztliche Untersuchung ausgestellt worden ist.
2. Das OLG Celle meint, der Arzt habe durch die Formulierung „schriftliche Gutachten aufgrund der vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung“ erklärt, dass ihm eine individuelle Aktenlage vorliege und das sei UNRICHTIG. Der inhaltlich höchst fragwürdige Kernsatz der Begründung des OLG Celle lautet: „Die Deutung, dass mit der „vorliegenden Aktenlage“ nur die allgemeine Datenlage etwa des Herstellers der Impfstoffe – gemeint sein könnte, liegt angesichts des dargelegten Gesamtzusammenhanges der Formulierung fern.“
Mit keinem einzigen Wort geht das OLG Celle auf die mehrseitigen und detaillierten Ausführungen von Prof. Dr. Sönnichsen zu exakt dieser allgemein vorliegenden Datenlage ein. Hätte das OLG Celle sich mit dem weiteren ausführlichen Attestinhalt auseinandergesetzt, wäre nicht zu begründen gewesen, warum trotz mehrseitiger Erläuterungen, worin die vorliegende Aktenlage konkret besteht, eine vorliegende Aktenlage individueller Art sein soll. M. a. W.: Das OLG Celle liest die Behauptung einer individuell vorliegenden Datenlage in das Attest hinein, um dann sagen zu können, das Attest sei „unrichtig“. Damit verlässt das OLG Celle bei zweifelsohne mehreren gegebenen Deutungsmöglichkeiten den Boden der Auslegung; es arbeitet mit Unterstellungen zu Lasten der Angeklagten. Dies wiederum verstößt gegen die Unschuldsvermutung.
In subjektiver Hinsicht bedarf es der Feststellung, dass die Angeklagte das Attest so verstehen und als unrichtig erkennen musste, dass mit „vorliegender Datenlage“ das Vorliegen einer individuellen Datenlage und individuell vorliegender Unterlagen durch Herrn Prof. Sönnichsen behauptet wird. Angesichts der umfangreichen Erläuterungen, die in dem Attest enthalten sind und sich auf die allgemeine Datenlage beziehen – während jegliche individuellen Ausführungen fehlen -, ist dieser Nachweis schwerlich zu führen. Warum sollte ein Arzt seitenlang Ausführungen zu ihm vorliegenden Unterlagen allgemeiner Art machen, während er zu individuellen Daten, deren Vorliegen er angeblich behauptet hat, kein einziges weiteres Wort verliert? Das OLG zerreißt geradezu mutwillig den konkreten Attestkontext. Jeder verständige Mensch wird sich zudem die Frage stellen, warum die entsprechende Internetseite, wenn dort strafbaren Handlungen Vorschub geleistet werden würde, nicht längst abgeschaltet ist.
3. In einer mit dem Urteil des OLG Celle gleichgelagerten Konstellation hat das LG Oldenburg – Beschluss vom 05.12.2023 – 4 Qs 400/23 eine Strafbarkeit auch mit folgenden Gründen abgelehnt: Der Passus, dass eine schwere allergische Reaktion (Anaphylaxie) jede geimpfte Person treffen kann, so das LG Oldenburg, „lässt in der Zusammenschau mit dem weiteren Inhalt des „Gutachtens“ erkennen, dass es sich letztlich nur um eine allgemeine Empfehlung des Ausstellers handelt.“
sowie in der weiteren Begründung des Beschlusses
„Gutachten der vorliegenden Art lassen indes klar erkennen, dass eine Informationsgewinnung durch den Arzt gar nicht stattgefunden hat.“ Wenn das LG Oldenburg derart klare Aussagen in Bezug auf den Attestinhalt herausgelesen konnte, wird es in subjektiver Hinsicht sehr schwierig, auch nur ansatzweise plausibel zu begründen, warum die Angeklagte das Attest nur so verstehen konnte, wie es jetzt das OLG Celle in einer geradezu böswilligen Auslegung verstehen möchte.
4. Der vom OLG Celle entschiedene Fall bietet Gelegenheit, weitere hoch interessante Rechtsfragen zu klären: Die mittlerweile 16jährige Tochter der Angeklagten (der zuvor bei Nichtvorlage des geforderten Nachweises ein Bußgeld gem. § 20 IfSG angedroht worden war) leidet an einer schweren psychischen Erkrankung und weigert sich aus eigenem Entschluss, eine Masernimpfung an sich vornehmen zu lassen.
Altersentsprechend steht der Tochter ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Impfungen zu (siehe OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17.08.2021 – 6 UF 120/21 sowie OLG Dresden, Beschluss vom 28.01.2022 – 20 UF 875/21). Ohne Einwilligung der 16jährigen Tochter wäre die Durchführung der Impfung eine Körperverletzung (!). Die angeklagte Mutter handelte daher auch, um erstens eine Körperverletzung an ihrer Tochter zu vermeiden und zweitens selbst einem bereits angedrohten Bußgeld zu entgehen.
Ein Kontraindikationsattest war trotz Bemühungen der Mutter nicht zu erhalten, da psychische Erkrankungen auf der Liste des RKI über Kontraindikationen schlicht nicht vorkommen. Ärzte, die in einer derartigen Situation eine Kontraindikation aus psychischen Gründen attestieren, riskieren eine Strafverfolgung wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse, wobei der Mutter ggf. der Vorwurf, den Arzt zu einem solchen unrichtigen Gesundheitszeugnis angestiftet zu haben, gemacht werden kann. Die angeklagte Mutter befand sich daher in einer für sie unauflöslichen Konfliktsituation, die notwehr- bzw. nothilfeähnlich war. Daher regte das OLG auch im Verhandlungstermin bei der Staatsanwaltschaft an, das Verfahren einzustellen. Der weitere Verlauf des Verfahrens bleibt abzuwarten.
5. Besonders bemerkenswert ist eine Passage im Urteil des OLG Celle, die lautet: dass die Tochter der Angeklagten „entgegen dem Wortlaut des „Ärztlichen Gutachtens“ tatsächlich weder von dem Arzt Prof. Dr. Sönnichsen körperlich untersucht worden war noch es einen persönlichen Kontakt zwischen beiden gegeben habe“. Der Wortlaut des Attests (s. o.) ist in diesem Punkt nachweislich RICHTIG; auf die fehlende körperliche Untersuchung wurde explizit hingewiesen. Ebenso verweist das Attest darauf, dass das Gutachten nach der vorliegenden Aktenlage, mithin ohne persönlichen Kontakt erstellt worden war. Ein im Strafrecht hoch erfahrener Kollege bewertete das Urteil wie folgt:
„die Ausführungen des OLG Celle auf den Seiten 7-8 sind leider ein kompletter intellektueller Ausfall“.
Dem ist nichts hinzuzufügen!
WICHTIG für alle Nutzer von Masern-Impfblocker: Das aktuell zum download bereitgestellte Gutachten enthält nicht die Formulierung „ohne erneute (körperliche) Untersuchung“. Für ganz ähnliche Atteste haben sowohl das OLG Oldenburg (Beschluss vom 18.01.2024 1 Ss 269/23 als auch das OLG Naumburg, Beschluss vom 28.08.2023 – 1 ORs 113/23) eine Strafbarkeit mit ausführlicher und zutreffender Begründung verneint.
Fazit: Es soll ein bedrohliches Verfolgungsszenario geschaffen werden, damit Atteste über eine Kontraindikation erst gar nicht ausgestellt oder genutzt werden. Davon sollte sich niemand verunsichern lassen. Denn den juristischen Spitzfindigkeiten, wie das OLG Celle sie angewendet hat, fehlt mittlerweile die Grundlage, so dass den Nutzern Entwarnung gegeben werden kann.