Erzwungene Freiwilligkeit – Wie wir zur Vernunft dressiert werden

von | 23.05.2025 | Resist

Es gibt keine Pflicht mehr. Es gibt nur noch Gründe. Gute Gründe. Logische Gründe. Vernünftige Gründe. Und genau darin liegt das Problem. Denn was früher als offener Zwang auftrat, tarnt sich heute als Freiwilligkeit. Als Empfehlung. Als kluger Weg. Wer sich richtig verhält, bekommt Vorteile. Wer seinen eigenen Weg geht, verliert – still, aber spürbar. Das ist kein Zufall. Es ist System.

In den 70er und 80er Jahren war ein Jurastudium brutal klar: Du durftest jede Prüfung einmal vergeigen – dann warst du raus. Es gab keine doppelten Böden. Keine zweite Chance. Aber: Du hattest alle Zeit der Welt. Wenn du zehn Jahre brauchtest, dann war das eben so.

Dann kam der „Freischuss“. Wer sein erstes Staatsexamen in der Regelstudienzeit ablegte, durfte es wiederholen, wenn es schiefging. Klingt fair – war aber eine heimliche Revolution. Plötzlich wurden aus frei denkenden Bummelstudenten getriebene Taktiker. Wer sich das Studentenleben gönnte, riskierte seine einzige Chance. Wer „vernünftig“ war, spielte mit.

Ein brillantes Beispiel für erzwungene Freiwilligkeit: Kein Muss, aber massiver Druck. Kein Zwang, aber harte Konsequenzen. Wer nicht mitmachte, flog nicht raus – er fiel einfach zurück. Und das Prinzip zieht sich bis heute durch alle Lebensbereiche.

In der Schule funktioniert es ebenso: Wer seine Aufgaben pünktlich abgibt, bekommt Bonuspunkte. Wer sich nicht bewerten lässt, gilt als unsicher. Leistung ist nicht nur Ziffer – sie ist Anpassung. „Freiwillige“ Tests, „empfohlene“ Apps, „erwünschte“ Teilnahme. Wer nicht mitmacht, wird nicht bestraft – aber aussortiert. Still. Ohne Skandal.

Auch in der Arbeitswelt hat sich das Prinzip durchgesetzt. Niemand zwingt dich zu Überstunden. Aber alle tun es. Wer pünktlich geht, wird schief angesehen. Wer in Elternzeit geht, verliert Projekte. Wer sich für das Leben entscheidet, gegen die Karriere, wird „nicht berücksichtigt“. Ganz offiziell freiwillig. Ganz real: systemisch ausgeschlossen.

Noch perfider wird es im Gesundheitsbereich. Masernimpfung, Corona-Impfung: keine Pflicht. Aber: Kein Kindergarten, kein Krankenhaus, keine Reisefreiheit. Wer sich nicht impfen ließ, wurde nicht bestraft – er wurde ausgeschlossen. Keine Zwangsimpfung, sondern eine Eintrittskarte. Fürs Leben.

Der Trick ist immer derselbe: Du darfst alles – aber wehe, du tust es. Du darfst anders denken, anders leben, anders handeln. Aber dann bist du halt raus. Aus dem Studium. Aus der Schule. Aus der Gemeinschaft. Aus der Teilhabe.

Auch in der Sprache erleben wir das: Gendern ist offiziell freiwillig. Aber Bewerbungen ohne Gender-Sternchen landen oft schneller im Papierkorb. Wer klassisch schreibt, gilt als unaufgeklärt. Wer fragt, ob das alles noch Sprache ist, verliert den Anschluss. Keine Sanktion – nur Bedeutungslosigkeit.

Und genau das ist die neue Methode der Macht: Sie erzwingt nicht. Sie selektiert durch Angebote. Die Mohrrübe ersetzt die Peitsche. Und wer die Mohrrübe nicht will, bekommt eben nichts. Kein Job. Kein Bonus. Kein Mitreden.

Wir erleben das in fast allen Bereichen:

  • Im Verkehr: Wer das Auto meidet, wird belohnt. Wer fährt, zahlt Parkgebühren, CO₂-Abgaben, City-Maut.
  • Im Wohnen: Wer sich „nachhaltig“ saniert, kriegt Förderung. Wer in alten Strukturen lebt, wird steuerlich bestraft.
  • In der Medizin: Wer die eAkte nutzt, bekommt Komfort. Wer analog bleibt, muss umständlich kämpfen.
  • In der Digitalisierung: Wer keinen Google-Account hat, verliert Anschluss. Freiwillig. Natürlich.

Die erzwungene Freiwilligkeit ist die effizienteste Steuerungstechnik der Gegenwart. Kein Verbot. Kein Zwang. Nur Regeln, Vorteile, Algorithmen. Wer sich nicht fügt, fühlt sich nicht ausgeschlossen – er ist es einfach.

Doch der schlimmste Schaden ist nicht materiell. Der schlimmste Schaden ist psychologisch. Wir lernen, uns selbst zu kontrollieren. Wir passen uns an, bevor es nötig ist. Wir wollen das „Richtige“ tun – auch wenn es sich falsch anfühlt. Wir glauben, frei zu sein. Dabei haben wir längst verlernt, Nein zu sagen.

Der freie Mensch ist nicht der, der tun kann, was er will. Der freie Mensch ist der, der es auch wagt – trotz Nachteilen. Trotz Ausgrenzung. Trotz Mahnung. Wir müssen diesen Mut wiederfinden. Uns erinnern: Freiheit ist kein Belohnungssystem. Sie ist ein Risiko.

Wir sind keine Tiere, die sich über Möhren steuern lassen. Wir sind Menschen. Mit einem freien Willen. Und der zeigt sich nicht im Mitmachen – sondern im Widerstand gegen das Sanfte, das uns die Luft nimmt.

Lassen wir uns nicht mehr dressieren. Die neue Pflicht heißt: freiwillig aufstehen.

WordPress Lightbox